Chancengleichheit

Sozialer Aufstieg darf kein Glücksspiel bleiben

Ein Schulmädchen sitzt schreibend am Tisch und denkt nach.
Sind die Eltern Nichtakademiker, sieht es für die schulische Zukunft schlecht aus. © imago/Ikon Images
Ein Kommentar von Shai Hoffmann · 02.01.2019
Unter #unten teilen Menschen auf Twitter derzeit ihre Erfahrungen aus einem Leben in Armut und die Vorurteile, die ihnen dabei begegnen. Der Social Entrepreneur Shai Hoffmann fordert anlässlich der Diskussion eine zeitgemäße, gerechte Sozialpolitik.
Die #unten-Geschichten in den sozialen Medien lesen sich zum Teil wie einschlägige Lebensrealitäten: Menschen, die sich vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen fühlen, weil sie selbst oder ihre Eltern früher jeden Cent drei Mal umdrehen mussten. Lehrer, die einem jegliche Intelligenz absprechen. Oder Hartz-IV-Kundenbetreuer, die einen schikanieren und behandeln, als sei man faul und dumm.
Laut einer EU-weiten Studie zum Thema "Leben in Europa" sind heute circa 15,5 Millionen Menschen von Armut bedroht – und das in einem Land, das prosperiert und in dem Unternehmen mithilfe ihrer MitarbeiterInnen Rekordgewinne einfahren. Problem: In der Regel werden diese nicht an deren Erfüllungsgehilfen weitergereicht, insbesondere nicht im Niedriglohnsektor.

Sozialer Status wird oft "weitervererbt"

Ist der soziale Aufstieg in Deutschland überhaupt möglich? Eine lang angelegte Studie zweier Wissenschaftler vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel und der Universität Madrid belegt: 60 Prozent der für den sozialen Status einer Person maßgeblichen Faktoren werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben.
Um es mit dem berühmten französischen Soziologen Pierre Bourdieu zu erklären: Die soziale Zugehörigkeit bestimmt den Habitus eines jeden Menschen. Dieser spiegelt sich in dessen Verhalten, Denken und Handeln wider und kann, laut Bourdieu, nicht erlernt werden, sondern wird nachhaltig von den Eltern unbewusst weitervererbt.

Vom Glück darf es nicht abhängen

Ich komme auch von #unten. Meine beiden Elternteile sind Nichtakademiker, immigrierten in den 1970er-Jahren aus Israel nach Deutschland. Meine LehrerInnen prophezeiten mir keine rosige Zukunft und empfahlen mir die Hauptschule.
Durch Glück traf ich Menschen, die mehr in mir sahen und an mich glaubten. Sie zeigten mir Perspektiven auf, die mich dazu veranlassten, mithilfe einer abgeschlossenen Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Ich hatte also bisher viel Glück in meinem Leben.
Doch sollte Glück tatsächlich darüber entscheiden, ob der soziale Aufstieg glückt? Glück gehört meines Erachtens ins Glücksspiel und darf kein Erfolgsfaktor dafür sein, ob jemand ein zufriedeneres Leben führen darf – oder eben nicht. Denn Glück ist lediglich ein Momentum und sollte langfristig durch gleiche Chancen für alle und daraus resultierende kollektive Zufriedenheit ersetzt werden. Stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie würden auf der Straße, in Geschäften und Supermärkten nur Menschen begegnen, die zufrieden sind?

Eine zeitgemäße Sozialpolitik ist nötig

Ich wünsche mir Gerechtigkeit und Zufriedenheit für all diejenigen, für die es spätestens am Ende des Monats nicht mehr für drei Mahlzeiten am Tag reicht, die ihren Kindern vermitteln müssen, dass das Geld für die Klassenfahrt oder den neuen Pulli nicht vorhanden ist.
Fest steht: Wir brauchten wohl Erneuerungen auf vielen Ebenen. Allen voran eine mutige, visionäre Sozialpolitik, die die Agenda 2010 in eine zeitgemäße Sozialpolitik übersetzt. Eine Politik, in der wir wieder eine menschenwürdige Mindestsicherung sowie ein gerechtes Rentenkonzept garantieren können. Gleichzeitig sollten wir LehrerInnen dafür sensibilisieren, unabhängig von sozialer und ethnischer Zugehörigkeit zu benoten.
Der Digitalpakt ist ein wichtiger, längst überfälliger Schritt. Aber die Frage, wie unsere Kinder und Kindeskinder in Zukunft im Zuge der Digitalisierung arbeiten werden, eine viel essenziellere.

Die großen Chancen für die Sozialdemokratie

Der Neoliberalismus hat nicht nur viele neue Fragen der Zukunft aufgeworfen, sondern auch Gräben zwischen Arm und Reich vertieft. Auf diese Fragen gilt es nachhaltige Antworten zu finden. Darin liegt eine große Chance für die deutsche Sozialdemokratie, die gut zuhören sollte, um mit ehrlichen Erzählungen und aufrichtigen Handlungen diejenigen zu erreichen und mitzunehmen, die von ihren Niedriglohn-Jobs zu kraftlos und müde sind, um ihre #unten-Geschichte laut und selbstbewusst zu erzählen. Dies ist die Politik nicht nur all diesen Menschen schuldig, sondern auch unseren nachfolgenden Generationen.
Damit aus einem #unten über #chancenfüralle #kollektivezufriedenheit wird.

Shai Hoffmann ist Social Entrepreneur, Speaker, Moderator und Dozent, Initiator vom Bus der Begegnungen und DemokratieBus. Auf seinem Facebook-Kanal interviewt er im Rahmen eines Facebook Live Formats "Auf einen Çay mit Shai" nachhaltige, soziale und inspirierende Projekte und Persönlichkeiten. Shai hat israelische Wurzeln, er lebt und arbeitet in Berlin und anderswo.

© Peter van Heesen
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